Manchmal stoßen wir Wissenschaftler an unsere Grenzen, wenn es um die Interpretation von Funden geht. Ein gutes Beispiel hierfür sind römische Spiele.
Sie waren meist aus vergänglichen Materialien wie Holz gefertigt, welches sich nur unter sehr günstigen Bedingungen erhält. Außerdem gab es keine fertigen Spielesets, die für ein bestimmtes Spiel gedacht waren. Vielmehr hatte man einen Sack mit Steinen, die für verschiedene Spiele eingesetzt werden konnten. Diese Spielsteine konnten aus Ton, Holz, Metall, Bein, Glas oder Stein bestehen. Als Spielsteine erkennt man sie nur, wenn sie eigens für den Zweck des Spielens hergestellt wurden, zum Beispiel verziert mit Rillen oder eingeritzten Mustern. Oftmals verwendeten spielfreudige Römer aber einfach, was gerade zur Hand war (Kieselsteine, Walnüsse, Kastanien, Stücke zerbrochener Keramikgefäße etc.). Das Erkennen von Spielutensilien ist dementsprechend schwierig. Abgesehen von hölzernen Spielbrettern, von denen nur einige wenige Stücke erhalten sind, zeichneten die Römer Spielbretter einfach mit Kreide auf das antike Straßenpflaster. Schriftquellen berichten uns über dieses Vorgehen, erhalten hat sich dieser temporäre Zeitvertreib freilich nicht. Geht man durch antike Stätten wie Rom oder Ephesos, so fallen dem aufmerksamen Betrachter Ritzungen an öffentlichen Plätzen auf. Einige davon können in Verbindung mit Schriftquellen eindeutig als Spiele identifiziert werden, wie die einfache Mühle, ludus duodecim scripta (ähnlich dem heutigen Backgammon) oder ludus latrunculorum (ähnlich dem heutigen Dame). Darunter gibt es jedoch auch Kreise, die durch Diagonalen in tortenstückförmige Felder unterteilt sind und lange Zeit falsch interpretiert waren.
Diese hat Carl Blümlein 1918 mit einer Bemerkung des antiken Autors Ovid verbunden und als runde Variante des Mühlespiels gedeutet. Seiner Meinung nach wäre das Ziel, drei Steine in eine Reihe zu bekommen, wobei allerdings die Mitte besetzt sein musste. Viele Wissenschaftler schlossen sich dieser Meinung an und zahlreiche Museums- und Onlineshops verkaufen „Rundmühlen“ aus Leder als Souvenirs zum Nachspielen.
Ulrich Schädler, Direktor des Schweizer Spielemuseums in La Tour-de-Peilz, zweifelte an Blümleins These, da ein solches Spiel relativ langweilig ist. Jeder, der es ausprobiert, bemerkt, dass innerhalb weniger Züge ein Spieler gewinnt oder eine Pattsituation entsteht. Der Spielspass ist demnach nicht gegeben.
Ich machte mich also auf die Suche nach einer antiken Quelle, die Spielbretter wie diese beschreibt. Fündig wurde ich in griechischen Texten. Diese nennen ein Spiel namens ὢμιλλα [omilla], bei dem ein Kreis mit Linien unterteilt wird. Dann stellt man sich in gewisser Distanz auf und versucht mit einem Wurfobjekt, z. B. einem Stein, in die Figur zu treffen, ohne die Linien zu berühren. Möglicherweise hatten die Felder unterschiedliche Werte oder man versuchte die gegnerischen Steine wieder hinauszutreiben. Details wie diese kennen wir nicht, da sich Spielanleitungen, wie sie heute jedem Spieleset beiliegen, nicht erhalten haben. Die Römer haben dieses Spiel von den Griechen ganz offensichtlich übernommen, den lateinischen Namen kennen wir aber leider nicht.
Dieses eine Rätsel ist also gelöst. Trotzdem hat sich die falsche Deutung Blümleins so stark in der Öffentlichkeit manifestiert, dass sie immer noch nicht ausgemerzt ist. Die in den Museumsshops angebotenen „römischen Rundmühlen“ tragen das ihre dazu bei, Blümleins Deutung als die einzig wahre zu verbreiten. Glücklicherweise hat sich ein bekannter Online-Shop mit der Rubrik „Rundmühle News“ auf Anregung Ulrich Schädlers dazu entschieden, die korrekte Deutung nun ins Netz zu stellen.
Die sog. Rundmühle ist folglich ein perfektes Beispiel dafür, wie es zu wissenschaftlichen Fehlinterpretationen kommt und welche weitreichenden Konsequenzen diese haben. Wer sich genauer mit der sog. Rundmühle beschäftigen will, findet einen meiner Artikel inkl. lateinischer Quellenangaben und Sekundärbibliografie auf meinem academia-Profil.